Montag, 28. Mai 2007

Werde ganz!

Der gespaltene Mensch ist unglücklich. Er ist es auch dann, wenn ihm alles gelingt und wenn ihm jeder Wunsch erfüllt wird. Das Gelungene befriedigt ihn nicht, weil ein Teil seines Wesens sich an der Befriedigung nicht beteiligt. Der erfüllte Wunsch bringt ihm keine Freude mehr, weil er im Wunsche selbst gespalten blieb und in der späteren Freude nicht ganz werden kann. Kein äußeres Glück macht ihn glückselig. Kein Lebenserfolg gewährt ihm den Genuß der Entspannung. Ihm fehlt das innere Organ, um glückselig zu werden; denn dieses Organ heißt Harmonie, übereinstimmende Totalität der Triebe und Fähigkeiten, Eintracht zwischen Instinkt und Geist, zwischen Glauben und Wissen.

Der gespaltene Mensch ist unglückselig. Ewiges Unbehagen ist sein Verhängnis; ewige und zwar hoffnungslose Jagd nach neuer Lust ist seine Bestimmung; Enttäuschung wartet auf ihn überall. Enttäuscht, sucht er nach neuem, unerprobtem Lustkitzel; er verlangt nach unerhörten Möglichkeiten; er verdreht den Geschmack, entstellt die Kunst und ist bereit, alle Abgründe des Bösen heraufzubeschwören und durchzustöbern, um einen neuen Reiz zu gewinnen, um ein neues, noch nie dagewesenes "Labsal" auszukosten. Er möge nur suchen und stöbern ... Gespalten, taugt er selbst für Glückseligkeit nicht; und was Seligkeit ist, wird er auch nie erfahren. Einem partiellen Genießer lächelt kein Genuß; einem gespaltenen Menschen lacht keine Sonne ...

Es wäre ein großer Fehler, diese ewige Unzufriedenheit, als Zeichen einer feineren, einer edleren Natur, die sich mit "gemeinen irdischen Freuden" nicht zufriedenstellen kann, zu deuten. Das Gespaltensein ist nicht eine höhere Errungenschaft, der man nacheifern dürfte; im Gegenteil, es ist eine Krankheit des Geistes, die man zu überwinden hat. Es darf uns nicht imponieren, daß die Helden Lord Byrons so souverän tun, als ob ihre Schwermut sie zu Halbgöttern erhöbe. Wir dürfen den Götheschen Faust nicht als einen Übermenschen bewundern, weil nämlich seine "zwei Seelen" sich von einander trennen wollen und weil er sich dem lustversprechenden Teufel verschreibt. Das achzehnte und das neunzehnte Jahrhundert hatten den Mut gehabt, sich ihre angeerbte geistige Spaltung zum Bewußtsein zu bringen und laut auszusprechen. Aber dieser Mut klang nach Selbstsicherheit, nach souveränem Stolz und nach Herausforderung; und so wurde die Spaltung für eine hohe Errungenschaft, für das Zeichen eines "höheren Menschen", eines "neuen Zeitalters" ausgegeben und genommen. Die Uneinigkeit zwischen Glauben und Verstand war schon lange da. Aber nun wurde daraus nach und nach eine Apologie des Zerfalls, eine unverhohlene Rebellion gegen das Göttliche, eine systematische Entweihung des Lebens und eine folgerichtige Absage an das Christentum. Diese Absage wurde schließlich bei Nietsche in Tönen des Hasses und der Verherrlichung vorgetragen, und fand in den Ereignissen der letzten Jahrzehnte ihre praktische Verwirklichung und Vollendung.

Der gespaltene Mensch ist unglückselig. Wenn er die Wahrheit empfängt, kann er nicht entscheiden, ob das die Wahrheit ist oder nicht, weil ihm die Fähigkeit zur totalen Evidenz fehlt. Hat er sie im Bewußtsein, so schweigt sein Gefühl und er läßt sie als nichteinleuchtenden Bewußtseinsinhalt fallen. Er versteht den eigenen Besitz nicht zu besitzen und den erworbenen Reichtum nicht zu erfassen. Vom Licht "weiß" er, daß es eben Licht ist, aber er schaut es nicht als Licht und bringt keine Freude ihm entgegen. So verliert er auch den Glauben daran, daß es eine totale Evidenz geben kann. Er will sie auch den Anderen nicht gönnen und begegnet ihr mit Spott; und um diesen Spott zu bekräftigen, schafft er eine Doktrin, der zufolge der Mensch überhaupt nichts Sicheres wissen kann (Agnostizismus) und verdammt ist, alles nur relativ zu erfassen und relativ anzuerkennen (Relativismus). Daraus entsteht eine systematisch gezüchtete und gepflegte Erkenntis-Anämie, ein grundsätzliches "Weder-Ja-noch-Nein", eine Flucht vor der Evidenz. Der gespaltene Mensch ist ein geistig entkräfteter Mensch. Er ist unfähig, Ueberzeugungen zu haben. In Fragen der Bekenntnis ist er gelähmt.

So etwa geht es ihm auf allen Gebieten des Geistes. - Er verwandelt das Problem des Guten-und-Bösen in die Frage nach dem Relativ-Nützlichen und Relativ-Schädlichen (Utilitarismus) und überläßt diese Fragen zufälligen, verstandesmäßigen Erwägungen. Und im Grunde genommen ist er der Ansicht, daß "kluge Menschen" sich mit dieser Frage überhaupt nicht abgeben. - In Sachen des Vaterlandes, der Rechtsfreiheit, der Gerechtigkeit steht er auf demselben "klugen" Standpunkt der Relativität; und zwar deswegen, weil seine Liebe und sein Rechtsempfinden so gespalten und entkräftet sind, wie seine Evidenz. - Für die Religion kann er überhaupt nichts übrig haben, denn sie erhebt Anspruch auf eine totale Herzens-Evidenz und kann sich mit keinen partiellen Zugeständnissen oder "Neigungen" begnügen. Der religiöse Mensch ist ganz, darum ist der gespaltene Mensch entweder religionslos oder religionsfeindlich. - Nur die Kunst hat er gerne, ganz besonders wenn sie ihren großen Dienst vernachlässigt und seinen Launen zu entsprechen sucht. Dann muß sie aber ihrer gesunden und tief verankerten Totalität absagen und selbst partiell werden: sie muß ihr sinnliches Gewand so reizvoll wie möglich ausputzen, sie muß einem sinnberauschenden "Impressionismus" oder "Futurismus" huldigen, sie muß sich äußerlich, arrogant, nervenkitzelnd gestalten - um nicht abgelehnt zu werden.

Dieser Entartung der Kultur liegt ein entartetes Dasein, ein gespaltenes, partielles Seelenleben zugrunde, das keine Verankerung kennt und alles Endgültige meidet. Der gespaltene Mensch balanciert sein Leben lang zwischen Nützlichkeitserwägungen, die er mit dem Wort "Vernunft", "vernünftig" bezeichnet, und augenblicklicher Laune, die er als "Stimmung" gerne hat. Gelingt ihm dieses Gleichgewicht, so wird seine Existenz tolerabel, gelingt es ihm nicht, so wird sie miserabel; er weiß nichts zu beginnen, denn die tieferen Quellen und die wahren Heiligtümer des Lebens fehlen ihm. Hieraus das "taedium vitae", die Langeweile am Leben.

Liebt er, so ist er nie sicher, daß er liebt, denn seine Liebe ist partiell. Liebt er nicht, so ist auch sein Nicht-Lieben partiell und wenig wert. Sein Ja ist nicht mehr als ein halbes Ja und spielt mit Nein; aber sein Nein ist ebenso relativ, bedingt, provisorisch und unzuverlässig. Sein Wort ist rein phonetisch aufzunehmen, denn der Sinn seines Wortes ist vieldeutig und der geistige Wert seines Wortes ist eine verschwindende Größe. In allen Situationen des Lebens kann er "so", aber auch "ganz anders": denn unverankert wie er ist, will er sich nicht binden. Ihm fehlt die wichtigste, die wertvollste Grundlage des geistigen Charakters: das eine, das einheitliche, das einzige Zentrum des Lebens.

Ein gediegener geistiger Charakter gleicht einer befestigten Stadt, in deren Mitte sich eine Burg erhebt: hier steht ein Tempel Gottes, mit dem Altar, auf dem eine nie ausgehende Flamme loht. Das ist das heilige Zentrum der Stadt, von dem aus alle Hausherde angezündet werden. Hier vereinigt sich alles; hier werden alle wichtigen Beschlüsse gefaßt; von hier aus strahlt der zentrale, der maßgebende Wille aus; hier sammelt sich die Kraft, hier wappnet sich die Treue.

Ein gespaltener Mensch kann sich diesen persönlichen Charakterbau und Lebensrhythmus gar nicht vorstellen. Er hat Wohlgefallen an dem eigenen inneren "Vielerlei" und deutet seinen Zustand, als eine "höhere Differenzierung des Geistes". Er besitzt gleichsam mehrere Zentren nebeneinander, schwört keinem von ihnen die Treue und scheint somit über jeden Verrat erhaben zu sein. Wird eines von diesen Zentren unbequem oder unhaltbar, dann zieht er in eine andere "Wohnung" und richtet sich wieder bequem ein, durch nichts gebunden, zu allem bereit, an nichts glaubend, nichts liebend, alles leicht verratend und selbstzufrieden. Dabei weiß er nur zu wenig von seiner wirklichen Lage und von seiner großen Not.

Diese Spaltung des heutigen Menschen ist in der Zeit entstanden, als er die autoritäte Religion ablehnte und sich dem freien Forschen und dem freien Denken ergab. Das freie Forschen wäre an sich mit der christlichen Religion durchaus nicht unvereinbar. Im Gegenteil_ es dürfte dem Menschen von Gott gewährt sein, die göttliche Offenbarung nicht allein aus der heiligen Schrift und nicht nur im inneren Lebenshauch, als Liebe, Gewissen und freies Geistsein, sondern auch in der Kontemplation der geschaffenen Kreatur und ihres verborgenen Wesens in Andacht wahrzunehmen. Aber geschichtlich gestaltete sich die Entwicklung als säkularisierendes Auseinandergehen: die Kirche hatte kein Vertrauen zum frei forschenden Menschen und der forschende Mensch empfand die Bevormundung der Kirche als Last. Er wandte sich an die Natur mit gespannter Neugierde und vergaß, die christliche Liebe mitzunehmen. Er widmete sich der Naturbeobachtung, pflegte dieselbe mit herrlichem Eifer und verlernte in der Beobachtung der sinnlichen Welt die christliche Kontemplation. Er schüttelte die religiösen Prämissen als empirisch unbrauchbare Voraussetzungen oder gar Hemmungen ab und suchte alles ohne Gott zu verstehen und zu erklären. Den Begriff "Gott" konnte er als erklärende Hypothese nicht mehr brauchen und stellte fest, daß seine "Erklärungen" umso besser gelingen, je mehr er das Göttliche überhaupt ausschaltet. Und nur die Philosophen versuchten noch von Gott zu reden, indem auch ihre Aussagen immer spärlicher wurden, sich immer mehr von rationalistischen Verboten und Konsequenz-Forderungen einschüchtern ließen, und nach und nach das Problem der Substanz überhaupt ausschalteten.

So wurde allmählich aus der christlichen Herzensschau, aus der Gott-liebenden und Gott-erforschenden kontemplativen Vernunft, ein abstrahierender Verstand, ein trockenes, beobachtendes und analysierendes Denken, eine herzlose Induktion ohne Schau und Einfühlung. An der äußeren Natur ausgetragen, wurde die Methode alsdann auf die innere, seelisch-geistige Welt übertragen und angewandt, und wirkte sich verheerend aus. Die äußeren Zusammenhänge der sinnlichen Welt wurden erfaßt und verwertet; das spärliche Beobachten bewährte sich hier vom Standpunkt der Technik (nicht der eigentlichen Wahrheit!). Aber die inneren Realitäten des Geistes und die feinen Zusammenhänge der menschlichen Seele gingen unter einem eisigen Hauch der mechanizistischen Weltanschauung verloren. Der gespaltene Mensch schuf eine gespaltene Doktrin über die äußere Welt und verlor die Reste seines gespaltenen Geistes in der herzlosen und schaulosen Selbstbeobachtung. Was ihm blieb, waren analysierender Verstand, entankerter und entfesselter Wille und entgeistigter Selbsterhaltungstrieb. Darüberhinaus: spöttische Ablehnung des Glaubens, falsche Scham for dem eigenen ausgetrockneten Herzen und Verachtung der schöpferischen Schau, die als "bodenloses Phantasieren" abgelehnt wurde.

Die gegenwärtige Krise ist die Krise des gespaltenen Menschen. Je früher man das einsehen wird, desto besser. Je mehr Mut man finden wird, diesen Tatbestand zu formulieren, zu beherzigen und die Konsequenzen zu ziehen, desto eher wird die Ueberwindung der Krise beginnen. Der Mensch muß sich wieder zusammenfinden. Er muß die disjecta membra, d.h. die gespalten- und außeinanderliegenden Organe des Geistes sammeln, beleben und zur neuen Synthese bringen. Die menschliche Klugheit muß sich wieder zum Glauben durchringen und die falsche Scham vor dem eigenen Herzen überwinden. Das Denken muß sich mit der schöpferischen Einbildung aussöhnen und wieder schauend, intuitiv, kontemplativ werden. Die autistische Phantasie muß die Schule der gegenständlichen Intention und der geistigen Verantwortung durchmachen. Der formale und entfesselte Wille muß sich dem Gewissen und dem Herzen unterstellen ... Dann wird der Verstand schauen lernen und zur Vernunft werden; und die kontemplative Vernunft wird dem Herzen gehorchen, sodaß alle Wege zum Herzen führen und dem Herzen entsteigen werden. Herzensschau, Gewissenswille und glaubendes Denken sind die drei großen geistigen Mächte der Zukunft, die allen Problemen des Daseins gewachsen sind, weil sie den Menschen zur schöpferischen Totalität gestalten.

Wer in die Ferne mit Hoffnung blickt der liest über der engen Pforte der Zukunft die schlichten Worte: "werde ganz!" ... -

Aus: Iwan Iljin "Blick in die Ferne", Zollikon 1945

Samstag, 12. Mai 2007

Die Flucht vor dem Licht

Es ist nicht mehr als das Vorurteil, daß jedes Wesen - der aufgehenden Sonne harrt und sich auf das dämmernde Tageslicht freut. Es gibt auch solche Geschöpfe, die das Licht scheuen und bei Sonnenhelle erblinden, die für die Nacht geboren sind, die sich vor dem Licht verkriechen und die Finsternis genießen. Der Adler öffnet sein Auge der Sonne entgegen; aber der Nachtaffe versteckt sich in seine Baumhöhle, und die Katzeneule hockt den Tag über in ihrem dunklen Ruinenloch.

So gibt es auch unter den Menschen solche, deren Blick nur geistige Nacht verträgt, nur im Einerlei der geistigen Finsternis zur Ruhe kommt und mit verkrampftem Auge jedem göttlichen Lichtstrahl begegnet. Der Eine frohlockt wenn er etwas Göttliches wahrnimmt, sei es in der Natur, oder im Menschen oder in den Räumen der übersinnlichen Schau. Der Andere fühlt sich dadurch geblendet und beunruhigt, und möchte überhaupt nichts mehr davon wissen ...

Wer von den Menschen sich in die finstere Geistlosigkeit der eigenen Seele endgültig eingelebt hat, der wird geistscheu und lichtfeindlich: er kann das Leuchten des Geistes nicht empfangen, er flieht, er höhnt, er lästert, er wird gehäßig, vielleicht sogar mordbereit. Darum weiß die Geschichte so viel über die Ermordung der guten, der besten, der geistesleuchtenden Menschen zu berichten. Und wenn jemand als Sehender auftritt und über das von ihm Gesehene berichtet, oder sich auch schweigend einfach als Lichtkundiger benimmt, soo achter er nur, daß seine Persönlichkeit nicht zum Stein des Anstoßes für alle Nachtaffen und Nachteulen werden ... Und darum muß sich jeder, der missionieren geht, zum Martyrium vorbereiten.

Menschen, bei denen das geistige Auge ungeweckt bliebt, treten ins Leben mit wachem Instinkt und mit schlafendem Geist. Sie suchen sich dementsprechend einzurichten - im Äußeren, und darum auch im Inneren: denn bei ihnen folgt das innere Leben den Ansprüchen des äußeren Nutzens und paßt sich ihnen an. So wird ihnen ihre geistige Indifferenz zum Maß für alle Wertungen und Handlungen. Geistig ziehen sie ins Leben mit geschlossenem Auge und mit gelöschtem Licht und machen zuweilen den unheimlichen Eindruck eines "fliegenden Holländers", der aus der Nacht in die Nacht als verhexter Unheilträger an uns vorbei schwebt. Übrigens spüren solche Menschen ihren eigenen Nutzen ausgezeichnet; nur in der geistigen Dimension leben sie nicht. Im Irdischen sind sie gewandt; aber zuweilen hat man das Gefühl, daß sie nichts vom Himmlischen wissen. So gehen sie durch's Leben; so handeln sie; so beurteilen sie die Welt und die Menschen. Die geistige Stockfinsternis, die in ihnen herrscht, stört sie nicht; im Gegenteil: sie wird ihnen zur Quelle des seelischen Gleichgewichtes und der Ruhe. Unvermerkt werden sie zu vollendeten Finsterlingen.

Der Finsterling genießt seine Finsternis und haßt das Licht. Er liebt seine Nacht umso mehr, als er eben Mühe hatte, diese Dunkelkammer in seinem Innersten herzustellen und sich in ihr zu behaupten. Denn nur in seltenen Fällen der vollstänigen geistigen Blindheit oder Idiotie kann es dem Menschen leicht fallen, sich endgültig in einer radikalen Gottesleugnung zu verankern und sich zu einem totalen Finsterling zu gestalten. In den meisten Fällen läßt sich der Gott-gegebene und Natur-vererbte "Geist des Instinktes" nicht ohne weiteres ignorieren. Ungeweckt bei der Erziehung, vernachläßigt im selbständigen Leben, schlummert er in der gottlosen Seele unter dem verlassenen Kellergewölbe und kann jederzeit aus eigenem Antrieb erwachen, sein freies Schauen beginnen und sein lautloses Leuchten von sich geben. Das geschieht auch. Dann wird die beruhigende Finsternis von innen durchbrochen, das seelische Gleichgewicht schwindet, alles gerät ins Wanken, wie bei einem Erdbeben, und der Menscch kommt in einen geistigen "Bürgerkrieg" mit sich selbst.

Der arme Mann schien sich herrliche ohne Gott und Geist - herrlich und zum Allesdürfen entfesselt. Er stellte sich seine mitternächtliche Souveränität vor und meinte, er hätte allen möglichen Hähnen den Hals abgedreht; und plötzlich kräht der Hahn in seinem eigenen Innern. Er hatte sich endgültig eingeredet, es gäbe kein Licht und keine Sonne; und siehe da, sein eigenes geistiges Auge, von dem er nichts wußte, durchstrahlt aus der Tiefe die düsteren Räume seines Herzens. Zuweilen genügt ein Augenblick dieses Strahlens, um das Falsche der bisherigen Einstellung zu beleuchten. Klein kommt sich dann der "Große" vor, armselig, feige, und, was am unerträglichsten ist, lächerlich. Er sieht seine ersehnte und gelobte Finsternis schwinden: denn sie kam nicht aus der Welt, sie war nicht Naturgesetz - sie war bloß sein eigenes Erzeugnis, die gewollte Luft seiner Blindheit. Er hatte sie erdichtet, weil er sie für seine geistwidrige Entfesselung brauchte. Und plötzlich sieht er das alles ein: er schaut seine objektive Nichtigkeit und kann sie nicht akzeptieren. Er sucht nach Ausweg und findet ihn nicht.

Der innere Konflikt ist schwer und schmerzlich, und zwar umso mehr, als er von stolzen Naturen einsam und wortlos ausgetragen wird.

Der stolze Mann fühlt sich bloßgestellt und verurteilt, und dies von einer Instanz, deren Nichtsein und deren Unwert er sich sein Leben lang eingeredet hatte; und - das Schmerzlichste - im letzten Grunde weiß er, daß diese Verurteilung zurecht besteht. Er weiß es, will es nicht zugeben und sucht sich selber das Gegenteil davon zu beweisen; und kann es nicht. Er will zurück in die beruhigende und entfesselnde Finsternis; aber die gibt es nicht mehr: ein Licht strahlt aus der Tiefe, ringt mit der Dunkelheit und verwandelt sie in eine wogende Dämmerung. Er will sich, nach wie vor, als Finsterling behaupten, aber die Dämmerung hindert ihn daran und das eigene Licht überführt ihn. Er versucht seine Vergangenheit zu rechtfertigen und seine Selbst-Apologie zusammenzustellen; und scheitert auch daran. Er möchte das Licht auslöschen, oder es wenigstens eindämmen, verdächtigen, sich ausreden - und das gelingt ihm nicht. Das kränkt ihn bis ins Tiefste. Aus dieser Kränkung entsteht ein Haß, der sich zu entladen sucht; am wem? Aus dieser Erniedrigung erwächst ein nagender Neid - gegen alles, was Licht ist, gegen alle, die das Licht tragen, ausstrahlen oder genießen. Neid und Haß erzeugen den Durst nach Rache; und die Rache ruft zum Mord.

Die Tragödie des Finsterlings, der in den Strahlen des Lichtes steht, ist bitter und tief. Er kann weder das Licht annehmen, noch in seine frühere Finsternis zurückkehren. Es beibt ihm nichts anderes, als sich gegen das Licht aufzulehnen: sich im Glanz seines Unrechtes zu zeigen und sich als den mächtigen Lichtfeind zu erweisen. Er betritt also den Weg des gestürzten Engels. Kann er das Licht nicht empfangen, so will er jetzt der "Finster-Mächtige" werden; denn die Nacht hat auch ihre Macht und ihre Größe. Jetzt gilt es, sich zu behaupten und alles herauszufordern - Gott und die Welt, und das Licht, jede wahre Qualität und alle Menschen. Jetzt gilt es die Finsternis zu erheben und das Laster zu rechtfertigen; und nocht mehr: das Licht bloßzustellen und womöglich eingehen zu lassen, damit es nicht mehr leuchte und damit keiner es trage und genieße. Das dämonische Element rührt sich in ihm und gönnt ihm keine Ruhe: er muß zum Widersacher Gottes werden.

Er sieht sich zwischen drei Lichtquellen und alle drei sind ihm unerträglich: das herrliche Licht Gottes, die innere Flamme seines eigenen Gewissens und das irdische Leuchten des Propheten.

Aber das Licht Gottes ist durch nichts zu erreichen: gütig und mächtig durchstrahlt und überstrahlt es alles Seiende, aus einer geheimnisvollen Ferne, die zugleich in aller nächster Nähe wirkt und leuchtet. Da kann er sich nur abwenden und in den Dienst der finsteren Macht stellen.

Dann beginnt er ein hoffnungsloses Ringen mit dem eigenen Gewissen, mit dem Geist seines eigenen Instinktes. Er sucht diese innere Lichtmacht durch sophistische Klügeleien zu überwinden, durch immer neue, finstere Taten zu erschöpfen, durch inneren Rausch und äußeren Lärm zu übertönen; und beruhigt sich nur insofern und nur so lange, bis es ihm gelingt. Aber endgültig wird es ihm nicht gelingen. Dann kommt er in Verzweiflung, zumal er zwischen allen drei Mächten, die in Wirklichkeit Eines sind, eine inhaltliche "Verwandtschaft" und eine ständige "Zusammenarbeit" spürt ...

Also bleibt ihm nur, seine Verzweiflung an dem Propheten in seiner irdischen Gestalt, auszutoben. Dann kommt es so weit, daß die Finsterlinge sich verschwören und gemeinsam ihr Werk zu vollbringen suchen: hier stürzen sie durch Ränke und Verleumdungen den leuchtenden Rivalen, dort versuchen sie alle Heiligtümer in Trümmer zu legen, am dritten Ort - einen genialen Menschen hinzurichten, überall das Licht auszublasen und womöglich die ganze Welt mit Lüge zu überfluten und in Dämmerung einzuhüllen. Und die besten Menschen fallen ihnen zum Opfer.

Das gelingt ihnen um so leichter, da es ja so viele Durchschnittsmenschen gibt, die an und für sich zu den Finsterlingen gar nicht gehören, bloß mit ihren Minderwertigkeits-Gefühlen nicht fertig werden und daher dem Neid verfallen. Niemand will sich klein, dumm, häßlich oder sonst irgendwie zurückgestellt sehen; und jeder hat Augenblicke im Leben, wo er seine Grenzen und seine Unzulänglichkeit einsehen und ehrlich zugeben muß. Dann kommt über ihn die Gefahr des Neides und er hat etwa denselben inneren Kampf, wie der große Finsterling, nur im kleinen Maßstabe auszutragen. Und wenn der Neid nicht überwunden wird, so verkriecht er sich in die Dämmerung des Unbewußten und verwandelt sich in ein unruhiges Spähen nach fremder Größe, Gabe und Tugend; - in eine Scheelsucht, mit der ewigen Bereitschaft, sich an dem Heruntermachen des Excellenten zu beteiligen. "Schönheit strahlt heilige Triebe in die Seelen", sagte einmal Wieland. Und Schiller vollendete diese Beobachtung: "Es liebt die Welt das Strahlende zu schwärzen." .... Da schließen sich viele kleine Neidlinge zusammen, finden den größeren und bösen Neidhart, unterstellen sich ihm, und verrichten ihr böses Werk. Einzeln oder in Scharen überfällt man die besten Menschen, um sie doch einmal los zu werden und ungehindert die Luft der alltäglichen Dämmerung oder der vollendeten Finsternis atmen zu können.

Schon die prähistorische Welt wußte darüber mit Entsetzen und Schmerz zu berichten. Der unfromme Kain soll aus Neid und Haß seinen Bruder, den frommen Abel erschlagen haben; und die Erde öffnete zum ersten Mal ihren Schlund, um ein unschuldiges Blut zu empfangen. - Der leidenschaftlich-rohe und widerspenstig-böse Dämon Set soll sich seines göttlichen Bruders, des Königs Osiris, listig und verräterisch bemächtigt und ihn in vierzehn Teile zerstückelt haben; und die leuchtende Gestalt des Osiris wurde von den Ägyptern als Sonnengottheit und als Auferstehungs-Omen gefeiert, Set aber wurde in die unterirdische Finsternis versetzt. Dies die zwei berühmtesten Visionen, der vorgeschichtlichen Zeit, um die biblischen Propheten nicht zu benennen.

Dann kommen die geschichtlichen Vergehen der Neider an den Lichtträgern. Diogenes Laertius berichtet uns, wie der große epheser Philosoph Heraklites die Verbannung seines Freundes Hermodoros erlebte: "Die Epheser", sagte er, "verdienen, daß alle ihre Erwachsenen insgesamt sterben und die Stadt den Unvolljährigen überlassen, dafür, daß sie ihren besten Menschen Hermodoros verbannten, indem sie sagten - es sei unter uns keiner der Beste, gibt es aber einen solchen, so möge er anderswo und mit anderen leben - ...".

Diesen Wunsch, den Besten los zu werden, schildert auch Plutarch in der Lebensbeschreibung des Aristides: "Als damals über Aristides abgestimmt wurde, reichte, wie man es erzählt, ein dummer Bauer, der nicht einmal die Buchstaben kannte, dem Aristides, den er für einen gemeinen Mann ansah, seine Scherbe hin und bat ihn, den Namen Aristides darau zu schreiben. Dieser fragte ihn mit Verwunderung, ob ihm denn Aristides etwas zuleide getan habe. "Gar nichts", antwortete er, "ich kenne den Mann nicht einmal, aber es ärgert mich, daß ich ihn überall den Gerechten nennen höre". So schrieb nun Aristides, ohne ein Wort zu erwidern, seinen Namen auf die Scherbe und gab sie ihm zurück". Und da es auch in Athen viel zu viel solcher Neider und Finsterlinge gab, so wurde Aristides für seine Gerechtigkeit verbannt.

Daß einer der größten Weltweisen, Sokrates, vom Athener Volk in ähnlicher Weise zum Tode verurteilt wurde, ist bekannt. Dabei wußte er, daß er nicht bloß von seinen Anhängern allein bekämpft wird, und daß er nicht als einziger dieses Schicksal zu tragen hat: "Wird man mich überwältigen", sagte er, "so werden es nicht Melites und Anites sein, sondern die Verleumdung und die Feindschaft der Masse. Sie haben schon noch viele andere, ausgezeichnete Männer überwältigt; es scheint mir, daß sie auch im weiteren überwältigen werden: man darf sich nicht wundern, daß es an mir nicht Halt machen wird ...". Sokrates kannte wohl das Gesetz der geistigen Finsternis, daß sie sich nämlich ausbreiten will und nicht zur Ruhe kommt, bevor sie alle Leuchten umstößt. Er wußte aber auch, daß der gute Mensch, der Lichtträger, weder im Leben, noch auch nach dem Tode Böses zu gewärtigen hat: denn das Leuchtende auf Erden wandelt im Licht und geht nach dem Tode in die Gefilde des Lichtes.

Sollten wir, dürften wir, Christen, bei diesen Erwägungen unseres Heilandes gedenken? Daß nämlich die irdische Stockfinsternis sich gegen das verkörperte Licht Gottes erhob und ihm das irdische Leben unter Qualen nahm? Dürften wir alsdann der christlichen Märtyrer, die bis auf heute leuchten und heute noch in die Gefilde des Lichts entschwinden, vergessen? ...

Der Finsterling kann sich mit dem Sein Gottes nicht abfinden. Er kann sein Licht nicht empfangen; er kann an seiner Güte und Liebe keine Freude haben. Er erhebt sich, um das Licht auszulöschen, weil er im Lichte sein eigenes Sein nicht behaupten und nicht fortsetzen kann. Er vergibt dem Licht keinen einzigen Lichtstrahl und solange er Versöhnung und Dank nicht gelernt hat, wird er seine Nichtigkeit an der Fülle und Güte Gottes rächen wollen. Möge das Licht in beliebiger irdischer Form erscheinen, möge es aus der persönlichen Güte, oder aus der politischen Gerechtigkeit, oder aus der religiösen Propheten-Evidenz, oder aus dem genialen Kunstwerk leuchten, - er haßt und neidet, er lästert und flieht vor dem Licht. Denn das, was er dem Lichtträger zufügt, möge es Verleumdung, Verbannung oder Hinrichtung sein, - ist nichts anderes als Auswirkung seiner eigenen Ohnmacht, als Flucht vor dem Licht, dessen Sieg von Anfang an auf göttlichen Wegen gewährleistet ist.

Aus: Iwan Iljin, "Blick in die Ferne", 1945

Mittwoch, 9. Mai 2007

Iwan Iljin: Vom nationalen Dünkel

Vom nationalen Dünkel

Aus dem Tagebuch eines Patrioten

Daß der Mensch sein Vaterland liebt und seinem Volke die Treue hält, ist natürlich, würdig und gut. Wie dürfte es anders sein? Wie könnte es anders werden? Er gleicht dem Baum, der seine Erdscholle mit allen Wurzeln umklammert, aus ihr seine Nahrung holt und sie nur dann verläßt, wenn ihm die Wurzeln abgehauen werden. Er gleicht dem Sohn, der sein Bestes von seiner Mutter erhalten hat - Leben, Gesundheit und die Kraft seines Geistes - und also die Substanz seiner Mutter in sich trägt. Zwischen dem Patrioten und seinem Vaterland besteht eine geheimnisvolle geistige Identität, so daß der Patriot sein "Land" in sich trägt und das "Land" im Patrioten sein schaffendes Organ behauptet.

Jeder wahre Patriot spricht stillschweigend zu seinem Volke: "Ich bin dein. Ich bin aus deinem Schoße fleischlich und geistig enstanden. Es flammt in mir derselbe Geist, der in meinen Ahnen glühte. Mich führt dein Selbsterhaltungstrieb, derselbe, der dich durch alles Schwierigkeiten und Nöte deiner Geschichte leitete. Der Seufzer in meiner Brust ist dein Seufzer; und stöhntest du, so stöhnt es auch in meiner Brust. Durch deine Kraft bin ich selbst stark und darum dient meine Stärke deiner Sache. Ich bin mit dir zu einem Wir verbunden. Ich glaube an deine Macht und an deine schöpferischen Wege. Deine Sprache ist meine Sprache; und wenn ich schaffe, so schaffe ich nach deiner Art und Weise. Ich lebe mit dir; ich schaue und denke wie du; ich wäre so froh, alle deine Gaben und Fähigkeiten zu besitzen; und es ist nur mit verborgenem Schmerz, daß ich an deine Schwächen und Unvollkommenheiten denke. Dein Staatsinteresse ist das meinige. Ich bin stolz, mich an deinem Ruhm beteiligen zu dürfen; aber nagender Kummer spannt mir das Herz, wenn ein Unglück über dich kommt oder du darniederliegst. Deine Freunde sind meine Freunde; und deine Feinde sind die meinigen. Dir gehört mein Leben und mir gehören deine Lande. Deine treue Armee ist meine Armee und wer sich an deiner Ehre vergreift, entehrt mich selber. Ich habe dich nicht auserkoren; du hast mich in deinem Schoße ausgetragen, geschützt und erzogen; aber von dir geboren und beschenkt, habe ich dich in Dank und Demut anerkannt, und treu und frei in mein Herz eingeschlossen. So sind wir eines geworden; so sind wir lebendige Identität" ...

Wenn das Herz des Patrioten zu seinem Volke in dieser Weise wortlos redet, so hat es recht und stellt eine der bedeutendsten und schöpferisch fruchtbarsten Beziehungen des irdischen Lebens her. Und wenn der Patriot so redet und handelt, so wäre es ungerecht, ihm einen nationalen Dünkel vorzuwerfen. Denn der Dünkel ist nicht Liebe und treue Gemeinschaft, sondern Überheblichkeit; und ein Patriot braucht durchaus nicht überheblich zu sein. Der Dünkel kommt aus einer Blendung und schafft eine Illusion. Der wahre Patriotismus ist aber durchaus keine Blendung und hütet sich wohl vor irgendwelchen Illusionen: im Gegenteil, er ist berufen, realistisch zu schauen, zu werten und zu handeln. Wer realistisch schaut, der sieht die Sachen so, wie sie sind: er sieht sein eigenes Volk in seiner Stärke und in seiner Schwäche; und er sieht auch die anderen Völker in ihren Fehlern und ihren Errungenschaften. Was jeder Patriot haben muß, ist: Flamme im Herzen und nüchterner Blick, Gott behüte ihn vor Überheblichkeit und nationalem Größenwahn. Denn mit der naiven Überheblichkeit beginnt der nationale Dünkel; und im politischen Größenwahn findet er seinen katastrophalen Höhepunkt.

Liebe ich mein Volk, so will ich es richtig kennen: seinen geschichtlichen Werdegang und seine Gefahren, die Eigenart seines Characters, seine territoriale, politische und wirtschaftliche Problematik, die Struktur seines geistigen Aktes, alles - seine nationalen Tugenden und seine Laster, seine Errungenschaften und seinen Rückstand, alles, was ihm eignet, was es angeht, was ihm fehlt. Ich suche es richtig zu erkennen und gerecht zu schätzen: nichts zu verkennen, nichts zu überschätzen und nichts zu unterschätzen. Das Gute ist gut; es muß wachsen und gedeihen. Das Schlechte ist schlecht; es muß durch neue Volkserziehung überwunden werden. Habe ich mein Volk erkannt, so werde ich ihm nichts verheimlichen: ich werde das Gute rechtfertigen, damit man weiß, was zu pflegen ist; ich werde aber das Schlechte nicht verschweigen, sondern es feststellen, zeigen und schildern, seinen Gründen und Quellen nachgehen, eine Besinnung im Volk hervorzurufen suchen, eine Läuterung anspinnen, eine Überwindung anbahnen.

Die Liebe darf nicht blind sein; im Gegenteil, sie muß das Auge des Liebenden klar und weitsichtig machen. Das geliebte Volk darf nicht in naiver Weise idealisiert werden. Das braucht es auch nicht. Der wahre Dienst am Volk besteht nicht in demagogischer Verherrlichung, in Schmeichelei und nationaler Überheblichkeit, sondern vielmehr in nüchterner, sachlicher Beurteilung und im klaren Nachweis der Fehler und Mängel. Hier liegt historisch der Unterschied zwischen nationaler Demagogie und nationalem Prophetentum: der Demagoge ist Brunnenvergifter und der Prophet ist Erzieher. Die Erziehung führt aber nicht zum blinden Dünkel, sondern in der Richtung der Bescheidenheit, der Besinnung und der Demut.

Somit beginnt der nationale Dünkel da, wo das Volk im primitiven Selbstbewußtsein stecken bleibt und wo auch seine Propheten, Ideologen und Erzieher dieses primitive Selbstbewußtsein nicht zu überwinden verstehen.

Das primitive Selbstbewußsein besteht darin, daß der Mensch durch seine Selbstwahrnehmung gefesselt wird und es nicht weiter bringt. Das, was er in sich selbst und als zu sich gehörend wahrnimmt, scheint ihm dermaßen wichtig und vollendet zu sein, daß er über diese Grenzen hinaus nicht mehr will. Das Eigene nimmt seine Aufmerksamkeit und Liebe in Anspruch. Sein Ich wird ihm zum lebendigen und einzigen Zentrum seiner Lust, seines Wollens, seiner Mühe und Freude; an der eigenen Realität zweifelt er nicht, das Übrige wird ihm mindestens problematisch und unwichtig. Es geht ihm etwa so, wie bei Andersen der alten Ente und der alten Katze, die hinter dem warmen Ofen kauerten und sich selbst für die halbe Welt und zwar für die beste Hälfte der Welt hielten. Darus entsteht im Alltagsleben ein lästiger Egoismus; der Psychopathologe hätte hier von "Autismus" und "Autoerotismus" gesprochen; der Philosoph hätte die Begriffe "Egozentrismus" und "Solipsismus" zur Anwendung gebracht; im sozialen Leben entsteht daraus eine engherzige Klassenpolitik, und im Völkerleben - nationaler Dünkel.

Der Mensch mit primitivem Selbstbewußtsein empfindet wohl die "eigene Haut", versteht aber aus der eigenen Haut in die fremde nicht zu fahren. Zuweilen ahnt er auch nicht, daß es überhaupt möglich ist und wie man es beginnt. Er ist naiv in seinem Egozentrismus. Sein "Ego" ist ihm alles; seine Welt, sein Hort, sein Ziel, sein Stolz. Einfühlung in andere Menschen und Völker übt er nicht; wozu täte er das auch? Darum weiß er auch so wenig von Nachempfinden, von Mitleid, von Takt und schließlich auch von Rücksicht. Er ist die Hauptursache im Leben und in der Welt; das Übrige ist unwichtig. Das Übrige bildet nur das Mileu, in dem er glänzt. Das war nämlich die grundlegende Idee von Max Stirner, diesem unnaivem Apologeten des amoralisch-praktischen Solipsismus, als er den "Einzigen und sein Eigentum" predigte; und wenn man sein Buch aufmerksam zu Ende gelesen hat, so staunt man über den vollständigen Mangel an Selbst-Humor (humor sui), den das Buch aufzeigt.

Etwa so geht es auch dem Volk mit primitivem Sebstbewußtsein: es verfällt dem nationalen Dünkel, in dem zugleich Naivität und Anmaßung zum Vorschein kommen. Der nationale Dünkel entsteht aus dem Gefesseltsein durh das Eigene. Einmal entstanden, schöpft er seine Kraft aus zwei gesunden, aber bei Rücksichtslosigkeit gefährlichen Trieben: aus dem Selbsterhaltungstrieb und dem Geltungstrieb. Der Selbsterhaltungtrieb gibt dem nationalen Dünkel den Schwung und dem Stoff seiner Anmaßung; der Geltungstrieb entstellt seine Wert-Urteile und treibt ihn in die Überheblichkeit. Daraus erwächst eine gewaltige Selbstüberschätzung und eine Unterschätzung anderer Völker. Die anderen Völker scheinen dem Dünkelhaften wenig wert zu sein: entweder sind sie eine Wiederholung seiner, dann sind sie überflüssig und brauchen nicht selbständig zu bleiben; oder aber sind sie Völker niedrigeren Ranges, dann dürfen sie dem erstrangigen Volk nicht im Wege stehen. Jedenfalls ist seine Einfühlung in das Leben und Schaffen des Anderen nicht angebracht, nicht zu empfehlen, denn sie wäre so viel, wie "Verrat" an dem eigenen. Die anderen Völker sind nicht mehr als Forschungsobjekt und zwar für den Fall der heranreifenden Unfreundlichkeiten; sie sind jedoch durchaus keine lebensberechtigten und selbständigen Subjekte, die zum freien Umgang geschaffen sind. Daraus entsteht eine eigenartige Unkenntnis der anderen Völker, eine Verständnislosigkeit, eine Anhäufung von Illusionen und von diplomatischen Fehlern, was wiederum den nationalen Dünkel stärkt und steigert.

Auf diese Weise wird alles überheblich und anmaßend: die Liebe zum Vaterland, der Stolz auf die großen Schöpfer der nationalen Kultur, die Wertung der eigenen Volkskraft, die Beziehung zu den umgebenden Völkern. Wenn aber auch die Erzieher und Propheten des Volkes von diesem Dünkel ergriffen werden, dann kann die Überschätzung zu einem richtigen Größenwahn auswachsen; und es fehlt dem Volk und seinen Erziehern an mäßigendem und läuternden Selbst-Humor, so rollt der Karren des Dünkels unaufhaltsam einer Katastrophe entgegen. Dann bildet sich die traurige Lehre vom historischen Hauptvolk und seiner Weltmission. Und vor diesem Hauptvolk stehen die übrigen Völker als eine Reihe von lästigen Hindernissen oder von geschichtlichen Mißverständnissen da ... -

In Wirklichkeit aber ist die Menschenwelt mit einem Garten Gottes zu vergleichen. Wohl weiß der ewige Gärtner, welche Blumen, wann und wo er gepflanzt hat und in der Zukunft noch pflanzen wird. Seine hohen Pläne hält er aber geheim und gestattet uns keinen Einblick in seine Absichten. Und jedes Volk, als Blume Gottes, hat Sorge zu tragen, daß seine Blüte am besten ausfalle und seine Gärtner mit schönstem Duft preise. Aber keine Blume hat irgend einen Grund, sich für die Hauptblume des göttlichen Gartens zu halten und die anderen Blumen zu verachten und zu überwuchern.

Es ist uns vorenthalten zu wissen, ob es wirklich in diesem Welt-Eden Hauptblumen zum Wuchern und wertlose Blümchen für den Misthaufen der Geschichte gibt. Sicher ist jedoch, daß eine wirkliche Hauptblume Gottes dem Dünkel nicht verfallen wird und daß eine überhebliche Blume kein Wohlgefallen finden kann.

Aus: Iwan Iljin, "Blick in die Ferne", 1945