Der gespaltene Mensch ist unglückselig. Ewiges Unbehagen ist sein Verhängnis; ewige und zwar hoffnungslose Jagd nach neuer Lust ist seine Bestimmung; Enttäuschung wartet auf ihn überall. Enttäuscht, sucht er nach neuem, unerprobtem Lustkitzel; er verlangt nach unerhörten Möglichkeiten; er verdreht den Geschmack, entstellt die Kunst und ist bereit, alle Abgründe des Bösen heraufzubeschwören und durchzustöbern, um einen neuen Reiz zu gewinnen, um ein neues, noch nie dagewesenes "Labsal" auszukosten. Er möge nur suchen und stöbern ... Gespalten, taugt er selbst für Glückseligkeit nicht; und was Seligkeit ist, wird er auch nie erfahren. Einem partiellen Genießer lächelt kein Genuß; einem gespaltenen Menschen lacht keine Sonne ...
Es wäre ein großer Fehler, diese ewige Unzufriedenheit, als Zeichen einer feineren, einer edleren Natur, die sich mit "gemeinen irdischen Freuden" nicht zufriedenstellen kann, zu deuten. Das Gespaltensein ist nicht eine höhere Errungenschaft, der man nacheifern dürfte; im Gegenteil, es ist eine Krankheit des Geistes, die man zu überwinden hat. Es darf uns nicht imponieren, daß die Helden Lord Byrons so souverän tun, als ob ihre Schwermut sie zu Halbgöttern erhöbe. Wir dürfen den Götheschen Faust nicht als einen Übermenschen bewundern, weil nämlich seine "zwei Seelen" sich von einander trennen wollen und weil er sich dem lustversprechenden Teufel verschreibt. Das achzehnte und das neunzehnte Jahrhundert hatten den Mut gehabt, sich ihre angeerbte geistige Spaltung zum Bewußtsein zu bringen und laut auszusprechen. Aber dieser Mut klang nach Selbstsicherheit, nach souveränem Stolz und nach Herausforderung; und so wurde die Spaltung für eine hohe Errungenschaft, für das Zeichen eines "höheren Menschen", eines "neuen Zeitalters" ausgegeben und genommen. Die Uneinigkeit zwischen Glauben und Verstand war schon lange da. Aber nun wurde daraus nach und nach eine Apologie des Zerfalls, eine unverhohlene Rebellion gegen das Göttliche, eine systematische Entweihung des Lebens und eine folgerichtige Absage an das Christentum. Diese Absage wurde schließlich bei Nietsche in Tönen des Hasses und der Verherrlichung vorgetragen, und fand in den Ereignissen der letzten Jahrzehnte ihre praktische Verwirklichung und Vollendung.
Der gespaltene Mensch ist unglückselig. Wenn er die Wahrheit empfängt, kann er nicht entscheiden, ob das die Wahrheit ist oder nicht, weil ihm die Fähigkeit zur totalen Evidenz fehlt. Hat er sie im Bewußtsein, so schweigt sein Gefühl und er läßt sie als nichteinleuchtenden Bewußtseinsinhalt fallen. Er versteht den eigenen Besitz nicht zu besitzen und den erworbenen Reichtum nicht zu erfassen. Vom Licht "weiß" er, daß es eben Licht ist, aber er schaut es nicht als Licht und bringt keine Freude ihm entgegen. So verliert er auch den Glauben daran, daß es eine totale Evidenz geben kann. Er will sie auch den Anderen nicht gönnen und begegnet ihr mit Spott; und um diesen Spott zu bekräftigen, schafft er eine Doktrin, der zufolge der Mensch überhaupt nichts Sicheres wissen kann (Agnostizismus) und verdammt ist, alles nur relativ zu erfassen und relativ anzuerkennen (Relativismus). Daraus entsteht eine systematisch gezüchtete und gepflegte Erkenntis-Anämie, ein grundsätzliches "Weder-Ja-noch-Nein", eine Flucht vor der Evidenz. Der gespaltene Mensch ist ein geistig entkräfteter Mensch. Er ist unfähig, Ueberzeugungen zu haben. In Fragen der Bekenntnis ist er gelähmt.
So etwa geht es ihm auf allen Gebieten des Geistes. - Er verwandelt das Problem des Guten-und-Bösen in die Frage nach dem Relativ-Nützlichen und Relativ-Schädlichen (Utilitarismus) und überläßt diese Fragen zufälligen, verstandesmäßigen Erwägungen. Und im Grunde genommen ist er der Ansicht, daß "kluge Menschen" sich mit dieser Frage überhaupt nicht abgeben. - In Sachen des Vaterlandes, der Rechtsfreiheit, der Gerechtigkeit steht er auf demselben "klugen" Standpunkt der Relativität; und zwar deswegen, weil seine Liebe und sein Rechtsempfinden so gespalten und entkräftet sind, wie seine Evidenz. - Für die Religion kann er überhaupt nichts übrig haben, denn sie erhebt Anspruch auf eine totale Herzens-Evidenz und kann sich mit keinen partiellen Zugeständnissen oder "Neigungen" begnügen. Der religiöse Mensch ist ganz, darum ist der gespaltene Mensch entweder religionslos oder religionsfeindlich. - Nur die Kunst hat er gerne, ganz besonders wenn sie ihren großen Dienst vernachlässigt und seinen Launen zu entsprechen sucht. Dann muß sie aber ihrer gesunden und tief verankerten Totalität absagen und selbst partiell werden: sie muß ihr sinnliches Gewand so reizvoll wie möglich ausputzen, sie muß einem sinnberauschenden "Impressionismus" oder "Futurismus" huldigen, sie muß sich äußerlich, arrogant, nervenkitzelnd gestalten - um nicht abgelehnt zu werden.
Dieser Entartung der Kultur liegt ein entartetes Dasein, ein gespaltenes, partielles Seelenleben zugrunde, das keine Verankerung kennt und alles Endgültige meidet. Der gespaltene Mensch balanciert sein Leben lang zwischen Nützlichkeitserwägungen, die er mit dem Wort "Vernunft", "vernünftig" bezeichnet, und augenblicklicher Laune, die er als "Stimmung" gerne hat. Gelingt ihm dieses Gleichgewicht, so wird seine Existenz tolerabel, gelingt es ihm nicht, so wird sie miserabel; er weiß nichts zu beginnen, denn die tieferen Quellen und die wahren Heiligtümer des Lebens fehlen ihm. Hieraus das "taedium vitae", die Langeweile am Leben.
Liebt er, so ist er nie sicher, daß er liebt, denn seine Liebe ist partiell. Liebt er nicht, so ist auch sein Nicht-Lieben partiell und wenig wert. Sein Ja ist nicht mehr als ein halbes Ja und spielt mit Nein; aber sein Nein ist ebenso relativ, bedingt, provisorisch und unzuverlässig. Sein Wort ist rein phonetisch aufzunehmen, denn der Sinn seines Wortes ist vieldeutig und der geistige Wert seines Wortes ist eine verschwindende Größe. In allen Situationen des Lebens kann er "so", aber auch "ganz anders": denn unverankert wie er ist, will er sich nicht binden. Ihm fehlt die wichtigste, die wertvollste Grundlage des geistigen Charakters: das eine, das einheitliche, das einzige Zentrum des Lebens.
Ein gediegener geistiger Charakter gleicht einer befestigten Stadt, in deren Mitte sich eine Burg erhebt: hier steht ein Tempel Gottes, mit dem Altar, auf dem eine nie ausgehende Flamme loht. Das ist das heilige Zentrum der Stadt, von dem aus alle Hausherde angezündet werden. Hier vereinigt sich alles; hier werden alle wichtigen Beschlüsse gefaßt; von hier aus strahlt der zentrale, der maßgebende Wille aus; hier sammelt sich die Kraft, hier wappnet sich die Treue.
Ein gespaltener Mensch kann sich diesen persönlichen Charakterbau und Lebensrhythmus gar nicht vorstellen. Er hat Wohlgefallen an dem eigenen inneren "Vielerlei" und deutet seinen Zustand, als eine "höhere Differenzierung des Geistes". Er besitzt gleichsam mehrere Zentren nebeneinander, schwört keinem von ihnen die Treue und scheint somit über jeden Verrat erhaben zu sein. Wird eines von diesen Zentren unbequem oder unhaltbar, dann zieht er in eine andere "Wohnung" und richtet sich wieder bequem ein, durch nichts gebunden, zu allem bereit, an nichts glaubend, nichts liebend, alles leicht verratend und selbstzufrieden. Dabei weiß er nur zu wenig von seiner wirklichen Lage und von seiner großen Not.
Diese Spaltung des heutigen Menschen ist in der Zeit entstanden, als er die autoritäte Religion ablehnte und sich dem freien Forschen und dem freien Denken ergab. Das freie Forschen wäre an sich mit der christlichen Religion durchaus nicht unvereinbar. Im Gegenteil_ es dürfte dem Menschen von Gott gewährt sein, die göttliche Offenbarung nicht allein aus der heiligen Schrift und nicht nur im inneren Lebenshauch, als Liebe, Gewissen und freies Geistsein, sondern auch in der Kontemplation der geschaffenen Kreatur und ihres verborgenen Wesens in Andacht wahrzunehmen. Aber geschichtlich gestaltete sich die Entwicklung als säkularisierendes Auseinandergehen: die Kirche hatte kein Vertrauen zum frei forschenden Menschen und der forschende Mensch empfand die Bevormundung der Kirche als Last. Er wandte sich an die Natur mit gespannter Neugierde und vergaß, die christliche Liebe mitzunehmen. Er widmete sich der Naturbeobachtung, pflegte dieselbe mit herrlichem Eifer und verlernte in der Beobachtung der sinnlichen Welt die christliche Kontemplation. Er schüttelte die religiösen Prämissen als empirisch unbrauchbare Voraussetzungen oder gar Hemmungen ab und suchte alles ohne Gott zu verstehen und zu erklären. Den Begriff "Gott" konnte er als erklärende Hypothese nicht mehr brauchen und stellte fest, daß seine "Erklärungen" umso besser gelingen, je mehr er das Göttliche überhaupt ausschaltet. Und nur die Philosophen versuchten noch von Gott zu reden, indem auch ihre Aussagen immer spärlicher wurden, sich immer mehr von rationalistischen Verboten und Konsequenz-Forderungen einschüchtern ließen, und nach und nach das Problem der Substanz überhaupt ausschalteten.
So wurde allmählich aus der christlichen Herzensschau, aus der Gott-liebenden und Gott-erforschenden kontemplativen Vernunft, ein abstrahierender Verstand, ein trockenes, beobachtendes und analysierendes Denken, eine herzlose Induktion ohne Schau und Einfühlung. An der äußeren Natur ausgetragen, wurde die Methode alsdann auf die innere, seelisch-geistige Welt übertragen und angewandt, und wirkte sich verheerend aus. Die äußeren Zusammenhänge der sinnlichen Welt wurden erfaßt und verwertet; das spärliche Beobachten bewährte sich hier vom Standpunkt der Technik (nicht der eigentlichen Wahrheit!). Aber die inneren Realitäten des Geistes und die feinen Zusammenhänge der menschlichen Seele gingen unter einem eisigen Hauch der mechanizistischen Weltanschauung verloren. Der gespaltene Mensch schuf eine gespaltene Doktrin über die äußere Welt und verlor die Reste seines gespaltenen Geistes in der herzlosen und schaulosen Selbstbeobachtung. Was ihm blieb, waren analysierender Verstand, entankerter und entfesselter Wille und entgeistigter Selbsterhaltungstrieb. Darüberhinaus: spöttische Ablehnung des Glaubens, falsche Scham for dem eigenen ausgetrockneten Herzen und Verachtung der schöpferischen Schau, die als "bodenloses Phantasieren" abgelehnt wurde.
Die gegenwärtige Krise ist die Krise des gespaltenen Menschen. Je früher man das einsehen wird, desto besser. Je mehr Mut man finden wird, diesen Tatbestand zu formulieren, zu beherzigen und die Konsequenzen zu ziehen, desto eher wird die Ueberwindung der Krise beginnen. Der Mensch muß sich wieder zusammenfinden. Er muß die disjecta membra, d.h. die gespalten- und außeinanderliegenden Organe des Geistes sammeln, beleben und zur neuen Synthese bringen. Die menschliche Klugheit muß sich wieder zum Glauben durchringen und die falsche Scham vor dem eigenen Herzen überwinden. Das Denken muß sich mit der schöpferischen Einbildung aussöhnen und wieder schauend, intuitiv, kontemplativ werden. Die autistische Phantasie muß die Schule der gegenständlichen Intention und der geistigen Verantwortung durchmachen. Der formale und entfesselte Wille muß sich dem Gewissen und dem Herzen unterstellen ... Dann wird der Verstand schauen lernen und zur Vernunft werden; und die kontemplative Vernunft wird dem Herzen gehorchen, sodaß alle Wege zum Herzen führen und dem Herzen entsteigen werden. Herzensschau, Gewissenswille und glaubendes Denken sind die drei großen geistigen Mächte der Zukunft, die allen Problemen des Daseins gewachsen sind, weil sie den Menschen zur schöpferischen Totalität gestalten.
Wer in die Ferne mit Hoffnung blickt der liest über der engen Pforte der Zukunft die schlichten Worte: "werde ganz!" ... -
Aus: Iwan Iljin "Blick in die Ferne", Zollikon 1945